Wenn die Realität die Fiktion einholt
Vor drei Jahren habe ich in meinem ersten Fall für Commissaire Duval einen Mord im Palais des Festivals während des Filmfestivals inszeniert. Ein klamaukiger Gruselfilm über einen Serienkiller während des Festivals wurde schon 1994 dort gedreht: La Cité de la peur (dt.: “Stadt der Angst”, siehe unten).Vermutlich gibt es noch viel mehr kriminelle Szenarien rund um das Palais des Festivals. Gestern wurde dort ziemlich herumgeballert. Vermummte Gestalten stürmten das Palais und mähten gleichmal die Nationalgarde, die auf den berühmten Stufen standen, gandenlos um. Wurde ein neuer James Bond-Film gedreht? Oder handelte es sich tatsächlich um einen Terrorakt? Die Menschen auf der anderen Straßenseite blieben stehen, holten aufgeregt ihr Smartphone heraus und nahmen die Szene auf. Man weiß ja nie, vielleicht konnte man das später teuer an BFMTV verkaufen und sähe es heute Abend schon im Fernsehen.
Ici se déroule un exercice de sécurité. So stand es gestern etwa alle fünf Meter an den Absperrungen des Palais des Festivals. Trotzdem wussten nicht alle, was los ist, als es gegen 10 Uhr plötzlich ein paar Mal knallte. Und nochmal. Ein Feuerwerk? Aus einem schwarzen Kleinbus springen schwarze, vermummte Gestalten und rennen die heute blau ausgelegten Treppenstufen des Palais des Festivals hinauf, und es knallt schon wieder. Ein paar Männer, die eben noch auf den Stufen standen, wie die Nationalgarde während des Filmfestivals, liegen jetzt auf den Treppenstufen. Kein Feuerwerk. Das waren Schüsse. Platzpatronen nur. Ich wusste es. Die Sicherheitsübung der Polizei, Feuerwehr und aller anderen Einsatzkräfte, die sich auf ein mögliches Attentat in Cannes während des Filmfestivals im Mai vorbereiten, war immerhin angekündigt worden. Ich zucke trotzdem bei jedem “Schuss” zusammen und eine Dame neben mir, eine ausländische Touristin, ist gar höchst erschrocken. Ich beruhige sie und sage in allen mir zur Verfügung stehenden Sprachen “Exercise, Übung, Training” sie versteht und ist sichtlich erleichtert. Es knallt schon wieder. Aber in mir rumort es, ich fühle mich flatterig und plötzlich so aufgewühlt, dass mir Tränen in die Augen schießen. Es knallt noch ein paar Mal. Ich flüchte mich kurzerhand zum benachbarten Kaffeekapselladen, beim Herausnesteln meiner Kundenkarte fallen mir alle anderen Karten aus der Brieftasche. Ich entschuldige mich und sage, dass mich das angrenzende Exercice etwas durcheinandergebracht hat und bestelle dann drei Stangen Kaffee, eine davon sans alcool. Man schaut mich überrascht an. “Sans caféine meinen Sie Madame?” Ah oui, ich bin wirklich durcheinander und zittere meine PIN-Nummer in das Kartenzahlgerät. “Setzen Sie sich einen Moment hin, Madame, Sie sind ganz blass”, sagt jetzt jemand neben mir und führt mich zu einem Sessel. “Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.” Kaum sitze ich, fange ich an zu Schluchzen. Man bringt mir dann auch noch ein Taschentuch und schlägt mir Espresso und Schokolade vor, aber ich will gar nichts. Ich sitze da, trinke kühles Wasser und versuche, mich wieder zu beruhigen. Sie sind sehr lieb in dem Kapselkaffeeladen, muss ich schon sagen. Eine Übung. Ich wusste es ja. Ich bin extra gekommen, um mir das anzusehen. Zu Inspirationszwecken. In meinem Metier muss man Schießereien ja auch mal aus der Nähe ansehen, wenn einem schon mal geordnete Schießereien angeboten werden, n’est-ce pas?
Mit einem Freund habe ich einmal ein Schießtraining in einem Schießclub im Hinterland von Nizza absolviert, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, eine Waffe in der Hand zu haben und zu schießen. Mein erster Schuss war ein Schock. Auch damals habe ich danach leicht gezittert. Obwohl ich Kopfhörer auf den Ohren hatte und ihn nur gedämpft hörte. Aber den Rückschlag spürte ich im ganzen Körper. Nie wieder werde ich in einem Krimi wütend “Nun schieß doch, du Depp” rufen, wenn irgendjemand verzögert oder gar nicht schießt. Es ist nicht so leicht, wie es aussieht. Schon die Waffe ist schwer, sie zu halten, das Laden, das Entsichern, das Abdrücken. Zielen muss man auch noch. Mein erster Schuss kostete mich Überwindung, und die Kugel landete irgendwo in der Ecke des Schießstandes. Nach mehreren Schüssen und mit etwas Übung habe ich die Scheibe immerhin getroffen. Beeindruckt blieb ich trotzdem.
Ich gehe später nicht, wie mir die fürsorglichen Kaffeeverkäufer raten, nach rechts, um nicht noch einmal mit dem Gewalt-Szenario konfrontiert zu werden, sondern setze mich absichtlich in ein Café gegenüber des Palais des Festivals und schaue mir das Exercise noch eine Weile an. Es wird im Moment nicht mehr geschossen. Aber Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr kommen mit Tatütata angefahren. Männer steigen aus, stehen herum, und sprechen in Funkgeräte. Die Feuerwehrmänner schleppen jetzt endlich die “toten” Männer von der Treppe, die dann unter dem Balkon des Palais geschützt liegen und später natürlich wieder miteinander reden. Aber sie bleiben da sitzen, sie sind ja “tot” und raus aus dem Spiel. Dann rennen viele Menschen mit erhobenen Armen aus dem Palais, vermutlich hat man sie aus einem Theatersaal “gerettet”. Sie aber, kaum sind sie aus dem Palais raus und wurden auf Waffen durchsucht, schlendern gemächlich und plaudernd zum Hafen. Wirkt wie früher, wenn wir in der Schule Feueralarm geprobt haben und lässig zu unserem sicheren Treffpunkt liefen. Immer wieder kommen “gerettete” Menschen aus dem Palais gerannt. Niemand scheint “verletzt”. Jetzt kommt eine Eliteeinheit der Polizei, ganz in Schwarz mit Helm und Schild, der RAID, Recherche assistance intervention dissuasion der Police Nationale. Die sind wirklich beeindruckend, wie sie in Windeseile in einer Schlange die Treppe hochhuschen. Alles andere, wenn es nicht gerade knallt, wirkt auf mich hölzern, unecht und naja, wenig überzeugend.
Heute steht es in der Zeitung. Tatsächlich hat es 31 “Tote” gegeben und doch auch jede Menge “Verletzte”, 22 davon schwer. Ich war aber auch nicht bis zum Schluss der Übung geblieben. Tatsächlich hat das Szenario den Verantwortlichen Schwachstellen aufgezeigt, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einheiten muss verbessert werden, man darf die Meerseite nicht vernachlässigen, und die Notaufnahme im Krankenhaus war ganz klar überfordert, wurde bei einer Pressekonferenz verlautbart. Wenn ich fälschlicherweise dachte, man habe dieses Exercice wegen des in drei Wochen stattfindenden Filmfestivals durchgeführt, denn sagen wir mal so: Aus terroristischer Sicht wäre Cannes während des Filmfestivals ja ein super Ziel: so viel Hassenswertes auf einen Schlag, und Mediatisierter geht ja kaum -, so wurde dies bei der Pressekonferenz entschieden dementiert. Es gäbe überhaupt keinen Zusammenhang mit dem zukünftigen Filmfestival, das im übrigen so gut gesichert sei, wie nie zuvor. Da sind wir ja erleichtert.